Volker von Prittwitz

 

Grenzen der Macht

Zur Analyse politischer Situationen und Prozesse

(2009)

 

Politik als System/Struktur

Gesellschaft und Politik werden traditionell als Systeme beziehungsweise Strukturen gedacht. Abgeleitet vom lateinischen structum (gebaut) steht der Begriff Struktur dabei für relativ feststehende Beziehungsmuster. Der Begriff ermöglicht es, von unwesentlichen Einzelheiten und Veränderungen abzusehen, also wesentliche Merkmale einer Gesamtheit zu erfassen. Umfasst ein Strukturmodell nur wenige grundlegende Beziehungsmuster, so reduziert es gesellschaftliche Komplexität auf wenige erklärungsrelevante Beziehungen. Geschieht dies autoritativ, etwa in Form einer dominant-parteilichen oder staatsphilosophischen Doktrin, so wirkt sie antipluralistisch. Es erscheint daher nicht zufällig, dass der Strukturbegriff einen ersten Bedeutungshöhepunkt in den 1930er Jahren erlangte, als totalitäre Konzepte Ansätze pluralistischer Demokratie in den Hintergrund drängten.

Der Strukturbegriff wird inzwischen, angeregt durch sich verstärkende gesellschaftliche Phänomene der großen Zahl, so Industrialisierung, Massenmedien, wohlfahrtsstaatliche Muster und die Ausbreitung der wahlgestützten Parteiendemokratie, in vielfältigen Formen und Bezügen angewandt. Gerade mit Bezug auf Politik bleiben aber typische Reduzierungen strukturalistischen Denkens einflussreich. So hält der Durchschnittsbürger Politik schlicht für ein schmutziges Geschäft, in dem sich kaum jemals etwas zum Guten wenden dürfte. Bestätigt fühlen kann er/sie sich in dieser Auffassung durch Kapitalismuskritik, nach der Kapitalstrukturen dauerhaft auf Kosten des kleinen Mannes herrschen.

Auch in der Politikwissenschaft dominieren bis heute System- bzw. Strukturkonzepte. Fragen öffentlichen Handelns werden demgegenüber nur in zweiter Linie, so in der Policy- und Governance-Forschung, thematisiert. Eigenständige Dynamiken politischer Prozesse schließlich bilden bis heute kein etabliertes politikwissenschaftliches Fachgebiet. Soweit Prozesse wirklich einmal modellgestützt untersucht werden, dominiert das Konzept der Pfadabhängigkeit, nach dem sich gebildete Machtlagen verstärken, also kaum Überraschendes zu erwarten ist.

Strukturdenken stößt allerdings an Grenzen fortschreitender Individualisierung, Subjektivierung und Pluralisierung: Offensichtlich sind immer mehr Individuen zumindest subjektiv in der Lage, sich von der bestimmenden Wirkung grundlegender Strukturen zu lösen. Schließlich lassen sich komplexe, mehr oder weniger ergebnisoffene soziopolitische  Prozesse nicht aus Strukturmodellen erklären. Angesichts dessen muss Politik auch nach eigenständigen Handlungs-, Situations- und Prozessmodellen analysiert werden.

 

Grenzen der Macht

Machtlagen bedeuten keine vollständige Prozesskontrolle. Denn zum einen betreiben Machthaber häufig Veränderungen, die ihrerseits zu Prozessen mit eigener Dynamik führen können. Zum anderen müssen sich Akteure gegebenen Machtlagen nicht unbedingt unterwerfen; vielmehr können sie auch abweichend handeln, beispielsweise in heroischen, kreativen oder fehlerhaften Formen. So kam es im Warschauer Ghetto 1944 trotz vollkommen überlegener militärischer Macht der Deutschen zum Warschauer Aufstand. Schließlich und vor allem ist jede Machtlage Teil komplexerer Konstellationen bzw. Prozesse, so dass sich grundsätzlich jederzeit Störungen ergeben können. 

Besonders ergebnisoffen sind soziopolitische Prozesse in Situationen mit ähnlich starken Akteuren. Dabei können kooperative Governance-Formen, so reine Kooperation, Verhandeln, Argumentieren oder verfahrensgebundener Wettbewerb, zustande kommen. Möglich sind aber auch Formen von Machtkampf oder gar gewalttätige Formen des Konfliktaustrags. Die Beteiligten müssen sich also grundsätzlich auf die Möglichkeit abweichender Prozessformen oder eines Wechsels des herrschenden Prozesstyps einstellen.

In der Praxis ergeben sich politische Situationen im Spannungsfeld unterschiedlicher Situations- bzw. Strukturbedingungen. Wie zum Beispiel anhand des Situationstypus Skandal anschaulich wird, steht dabei nicht ohne weiteres fest, wie gehandelt wird. So kann es in einem Skandal zum Rücktritt, aber auch zu einem Rückzieher des Beschuldigten (mit Verbleiben im Amt) kommen. Im Extremfall kann sich der Skandal sogar gegen die Skandalierer umkehren. Politische Situationen sind also prozessbezogen prekär.

 

Prozessmodelle  

Entsprechend ihrer prinzipiellen Offenheit sollten soziopolitische Prozesse nie mit Strukturen gleichgesetzt werden. Geschieht dies, wie in diversen Spielarten strukturalistischen Denkens, insbesondere in Systemtheorien, so werden die besonderen Spielräume und Eigenheiten solcher Prozesse nicht verstanden. Gleiches gilt, wenn Prozesse mit einmaligem Handeln gleichgesetzt werden: Da Prozesse grundsätzlich mehrere Situationen und Verknüpfungen zwischen diesen umfassen, müssen sie eigenständig modelliert werden.  

Prozessmodelle unterscheiden sich nicht nur nach den jeweils beobachteten Prozessformen, sondern auch nach dem Grad an prozessualer Offenheit, den die Beobachter in ihren Modellen zulassen. Von den folgenden Modelltypen sind die Typen 1) und 2) in hohem Maße unterkomplex, teilweise auch unwissenschaftlich. Da sie aber mit dem Anspruch vertreten werden, Prozesse abzubilden bzw. zu erklären, und im Alltagsdenken großen Einfluss besitzen, führe ich sie - als Antitypen eigentlicher Prozessmodelle - an.    

1) Prozessbeherrschendes Handeln: a) Religiöse und magische Prozesserklärungen ohne empirisch überprüfbaren Ausweis von Akteuren und Wirkungszusammenhängen, b) Verschwörungstheorien: Nicht vollständig überprüfbare Annahmen, dass bestimmte geheime Mächte einen Prozess bestimmen, c) Modelle öffentlichen Handelns, in denen Handeln mit Prozessen gleichgesetzt wird (Traditionelle Policyforschung).  

2) Prozessbeherrschende Strukturen: a) Sozialstruktureller Determinismus, beispielsweise Kapitalismustheorien mit universellem Erklärungsanspruch und deterministische Klassenmodelle, b) Systemtheorien (z.B. bei David Easton), in denen Prozesse als Systemgrößen erscheinen.

3) Handlungsprozesse: Akteure verfolgen bestimmte Handlungsziele auch über längere Zeit hinweg und sind damit in der Lage, Einfluss auf Handlungssituationen und Situationsverknüpfungen zu nehmen. Kein Beteiligter allerdings hat vollständige Macht über den Verlauf des Prozesses.

4) Entwicklungen: Prozesse der Entstehung, des Wandels, unter Umständen auch des Vergehens mit einer eigenständigen Verlaufsdynamik. In diesen können kreative Potentiale Einzelner und gezieltes politisches Handeln eine Rolle spielen; im Vordergrund aber steht meist die Vorstellung komplexer gesamtgesellschaftlicher, dabei insbesondere auch ökonomisch-technischer Veränderungen.  

5) Situationsfolgen: Beispiel: Nach einer öffentlichen Feier kommt es zum Protest einer Minorität; es entsteht ein symbolisch, unter Umständen gewaltsam ausgetragener Konflikt, der sich für die Polizei als Situation der Gefahrenabwehr darstellt. Das Vorgehen der Regierung in diesem Fall wird in den Folgetagen öffentlich diskutiert, teilweise kritisiert, woraus Legitimationsprobleme für die aktuelle Regierung entstehen können.

6) Instrumentelle Nutzung punktueller Situationszusammenhänge. Beispiel: Der ungarische Ministerpräsident Horn beabsichtigt 1989 die bis dato militärisch gesicherte Ost-West-Blockgrenze in Ungarn zu öffnen und informiert den deutschen Kanzler Kohl darüber. Dieser bittet ihn, den Plan so zu veröffentlichen, dass er in den deutschen 20-Uhr-Nachrichten erscheint. Horn tut dies – die gerade gegen Kohl anlaufende Revolte in der CDU ist damit zum Scheitern verurteilt.

7) Unwissentlich ausgelöste Situationszusammenhänge. Siehe dazu den Film Babel, in dem sich tragische familiäre Geschehnisse in drei Kontinenten beeinflussen, ohne dass die Beteiligten davon wissen.

8) Komplexe Prozesse mit zufälligen Wechselwirkungen. Beispiel: Wechselwirkungen zwischen nationaler Politiksituation, speziellen politikfeldinternen Prozessen und Auswirkungen eines entfernten Krieges.

Ein in Gang gekommener Prozess kann unterschiedlichste Dynamiken entwickeln. So kann er mehr oder minder rasch auslaufen, stetig fortschreiten, etwa sich nach und nach ausbreiten (Diffusion) oder sich durch Lernprozesse (Zielanpassung, Zielinnovation, reflexive Lernformen) verändern. Er kann sich, etwa durch Kommunikationsprozesse, verstärken und eine besondere Eigendynamik entfalten (Konflikteskalation, race to the bottom, race to the top). Andererseits können sich Prozesse auch umkehren, so von einer Selbstverstärkung in einer Richtung zu einer Selbstverstärkung in die Gegenrichtung. Schließlich beeinflussen sich in jedem Augenblick unzählige soziopolitische Prozesse in ihren jeweiligen Augenblickszuständen und Dynamiken wechselseitig, womit komplex-historische Abläufe entstehen.

 

Prozesswahrscheinlichkeiten

Die Tatsache, dass soziopolitische Prozesse durch bestehende Strukturen nie vollständig bestimmt sind, bedeutet allerdings nicht, dass jeder Prozess völlig ergebnis- und verlaufsoffen wäre. Vielmehr lässt sich die Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmter Abläufe und Ergebnisse politischer Prozesse abschätzen. Hierzu können Informationen über strukturelle Rahmenbedingungen, über bereits eingetretene Situationen, über praktisch genutzte Kommunikationsmuster sowie über Situationsverknüpfungen genutzt werden. So ist ein Gesetzgebungsprozess mit öffentlich weitgehend konsensualen Zielen und klar gesicherter Regierungsmehrheit voraussichtlich erfolgreich. Noch wahrscheinlicher wird dies, wenn der Gesetzgebungsprozess bereits erfolgreich vorangeschritten ist.

Je prekärer politische Situationen sind, desto offener allerdings werden entsprechende Prozesse in ihrem Verlauf und ihren Ergebnissen. Ein entsprechendes Raster prozessbezogener Wahrscheinlichkeitsberechnung ist zu entwickeln.

 

Schlussfolgerungen

Werden soziopolitische Prozesse, wie skizziert, als mehr oder weniger unabhängig von gegebenen Struktur- und Situationsbedingungen aufgefasst, ergeben sich einige Schlussfolgerungen:

1) Da gegebene Strukturen und darin eingeschlossene Machtlagen nie vollkommen herrschen, sollten Akteure nie die Hoffnung auf Alternativen beziehungsweise die Durchsetzungsmöglichkeit eigener Konzepte aufgeben.

2) Ausschließlich strukturbezogene Politikkonzepte tendieren, auch wenn sie als Alternative zu herrschender Macht verstanden werden, selbst dazu, Handlungs- und Gestaltungsspielräume zu übersehen oder zu unterdrücken. Politik sollte also immer auch explizit handlungsbezogen und prozessual konzipiert werden.

3) Selbst wenn alternative Handlungsmöglichkeiten in einer speziellen Situation fehlen, können sie sich durch spezielle Situationsverknüpfungen und unerwartete, meist indirekte Einflüsse ergeben. Gerade alternative Politik braucht also immer auch Geduld und Aufmerksamkeit für sich ergebende neue Handlungsspielräume.

4) Politisches Handeln sollte nie als vollkommen risikolos betrachtet werden. Selbst Politiken, die im Augenblick vollständig mit herrschenden Strukturen korrespondieren, können sich als prekär herausstellen, a) durch ungeeignete Prozess-, beispielsweise Kommunikationsformen, b) wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Statt Opportunismus empfiehlt es sich daher, grundsätzlich nach glaubwürdigen Handlungsbegründungen zu suchen und mit anderen Akteuren grundsätzlich respektvoll umzugehen.

5) Da politische Prozesse weit komplexer als jeweils herrschende Machtlagen sind, sollten sie auch selbst systematisch studiert werden. Hierzu reichen nachträglich historische Beschreibungen oder auch Versuche einer statistischen Prozessanalyse nicht aus. Vielmehr sollte die theoretische Reichhaltigkeit der Politikanalyse hierzu genutzt werden. Ein wichtiger Ansatz dafür ist die modulartige Verknüpfung von Struktur-, Situations- und Prozessanalyse.

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Autor: Prof. Dr. Volker von Prittwitz

Freien Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft

Homepage: www.volkervonprittwitz.de

Genaueres zum Thema finden Sie in: Prittwitz 2007: Vergleichende Politikanalyse, insbesondere Teil 2: Vergleichende Situations- und Prozessanalyse (Stuttgart 2007, Lucius&Lucius, UTB 2871).